Ich habe mich über einen längeren Zeitraum nicht so wirklich um „Omas-Jahre“ kümmern können.
Meine Neugierde auf die weit zurückliegende Vergangenheit wurde durch eine sorgenvolle Sicht auf unserer problematische Zukunft getrübt.
Trotz aller Ablenkungen habe ich dennoch viele 100 Nachtstunden mit der Transkription 1) eines 200 Jahre alten Buches verbracht.
Vor etwa 3 ½ Jahren erhielt ich einige uralte, mässig bis deutlich sichtbar beschädigte Dokumente. Wegen ihrer Lädierungen sind sie für Sammler als Wertanlage nicht von Interesse. Ich wiederum nehme gern alte Schriften mit „Gebrauchsspuren“ an. Nicht als Wertanlage. Äußerlichkeiten der Bücher und Schriftstücke sind mir gleichgültig. Ich möchte ihre Inhalte bewahren. Uralte, auch lädierte Exemplare, hätten ihren Interessentenkreis, wenn sie auch gelesen werden könnten. In Frakturlettern gedruckte Schriftstücke können heute nicht mehr von jedermann ausreichend bequem entziffert werden. Man kann die Inhalte nicht mal eben so überfliegen, das Durchbuchstabieren ist zeitraubend und so geht altes Wissen schlicht und einfach verloren.
Ich versuche dies – soweit meine Zeit es mir gestattet – zu ändern und übertrage die Texte alter Dokumente (Bücher, Zeitungsartikel udgl.) in moderne Schrift.
Exemplare aus alten Tagen, die mir gehören, gebe ich im Original samt meines Transkripts gern an die Archive von Museen weiter (samt dem Verwertungsrecht). Hier liegen sie dann in kommenden Jahrzehnten griffbereit samt Transkript für interessierte Leser bereit.
Das Fundstück, um welches des sich heute dreht:
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Bremisches Kochbuch von „Betty GLEIM“- 3. Auflage – 1823
Bremisches
K o c h b u c h.
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Nebst einem Anhange
wichtiger
Haushaltungsregeln,
und der
Angabe und Vergleichung
der vornehmsten
Deutschen Maße und Gewichte;
wodurch dasselbe
für ganz Deutschland brauchbar wird
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Von
Betty Gleim 3)
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Dritte verbesserte und vermehrte Auflage 4)
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B r e m e n
Druck und Verlag von Johann Georg Heyse 5)
1823 6)
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1) aus einer (alten) Schrift 1:1 in eine andere (neue) Schrift übertragen
2) Fraktur
4) Diese 3. Auflage scheint „die verschwundene Auflage“ zu sein.
Es ist mir in 3 ½ Jahren nicht gelungen ein (irgendein) Exempl. aufzuspüren, geschweige denn zu erwerben.
5) Vor Heyse hatte der Verleger Müller den Druck und den Vertrieb des Bremischen Kochbuches für die Autorin erledigt und mit ihr den Verdienst abgerechnet. Urplötzlich tauchte 1817 ein inhaltlich beinahe identisches „Neues Bremisches Koch- und Wirtschaftsbuch nach Betty Gleim“ auf. Ein Autor wurde nicht benannt. Es wurde überraschenderweise von Verleger Müller, Betty Gleims Herausgeber der 1. Auflage, als Konkurrenzprodukt erfolgreich vermarktet.
In ihrer „Erklärung“ zur 2. Auflage nimmt die Verfasserin hierzu schriftlich Stellung:
– VII –
E r k l ä r u n g.
Da ich ein so unschuldiges und friedliches Buch, als ein Kochbuch, nicht mit der Fortsetzung des Streits beschmutzen will, zu welcher das unrechtliche Verfahren des Verlegers der ersten Auflage dieses Werks Veranlassung gegeben hat: so mag das, was er in der Vorrede seines sogenannt Neuen Bremischen Kochbuchs den (sich Verfasser nennenden) Verfasser desselben über mich und meine Schwester sagen läßt, unbeantwortet bleiben.
Von demjenigen Theil des Publicums, an dessen Urtheil uns allein gelegen ist, sind wir, und ist unsere Sache hinlänglich gekannt, und wir brauchen vor diesem weder unser Recht noch unser Verfahren weiter zu vertheidigen.
Hat ja Herr Müller in der 2ten Beilage zu No. 83 der Bremer wöchentlichen Nachrichten doch selbst erklärt, daß er um die Erlaubniß zur 2ten Auflage mit mir gehandelt, und mir dafür ein Honorar geboten habe! War denn dies‘ nicht eine so vollgültige Anerkennung meines Eigenthumßrechts, als es nur gegeben werden konnte?
Das, was Herr Müller in seiner Gegen-Anzeige sonst noch über sein unverschuldetes Unglück,
– VIII –
über seine Vater-Lage und Pflichten, und sein daraus entspringendes Recht auf diese Beute; so wie über die, mit dem Titel und der Form des Buchs (der Legalität wegen) vorzunehmenden Veränderungen sagt — beweiset (wenn es ihm anders wirklich mit dieser Aeußerungen ein Ernst sein sollte,) weiter nichts, als daß das bestimmteste und klarste aller zehn Gebote für Jedermann doch noch nicht bestimmt und klar genug ist.
Ich habe diese mir abgedrungene letzte Erklärung auf ein besonderes Blatt drucken lassen, damit diejenigen Käufer meines Buchs, denen das Vorhergegangene in dieser Sache nicht bekannt geworden, solche nach Gefallen weglassen können.
B. G.
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Ich deute dies so, dass die 3. Auflage erschien, um Verleger Müllers Erfolgschancen so weit wie möglich einzuschränken. Erkennbar ist die Tätigkeit verschiedener Schriftsetzer, mit unterschiedlichen Rechtschreibkenntnissen und Abkürzungsgewohnheiten beim Setzen der Lettern.
Die „Liste der Druckfehler“ samt ihrer unterlassenen Korrekturen aus der 2. Auflage wurde 1:1 in die 3. Auflage übernommen.
Das lässt mich vermuten, dass Verleger Heyse die 3. Auflage ohne „viel Federlesen“ auf den Buchmarkt drückte. In bemerkenswert vielen, seinerzeit populären Anzeiger und Zeitungen, ließ er durch auffällige Inserate Werbung für diese 3. Auflage machen.
All diese Indizien bedeuten mir, dass Betty Gleim und ihr Verleger ziemlich in Eile waren.
Aufgrund der intensiven Werbung wurden die Auflage sicherlich weitflächig verteilt. Dadurch wurde die Stückzahl pro Buchhändler innerhalb der Regionen, in den Innenländern und im Ausland so reduziert, dass die verbliebenen Exemplare dieser 3. Ausgabe im Laufe der zurückliegenden 200 Jahre und ihrer Wirren an Bedeutung verloren, immer seltener wurden und über die Jahrzehnte bis heutzutage in den Haushalten automatisch Raritätenstatus erlangt haben.
6) 1827 verstarb Betty Gleim (am 27.03 im Alter von 45½ Jahren) nach schwerer Krankheit kinderlos. Kurz zuvor erschien die 4. Ausgabe, die Kosten der Pflege durch Personal und die Aufrechterhaltung des Haushalts machten Einkünfte unbedingt notwendig.
1827 gründete der sehr anerkannte, umtriebige, politisch geschickte, wirtschaftlich vorausdenkende Bürgermeister Smidt im Einklang mit der Bremer Kaufmannschaft den neuen Weserhafen „Bremerhaven“. Bremen stieg schnell in den Seehandel und den Überseehandel ein und Bremerhaven wurde zum bevorzugten Auswanderhafen für Amerikapassagiere.
Das Bremische Koch- und Wirtschaftsbuch fand so unweigerlich seinen Weg in die weite Welt und blieb bis zur 13. Auflage bis Ende des 19. Jahrhunderts ein erfolgreicher Klassiker des Marktes für Hauswirtschafts- und Küchenliteratur. Im Ergebnis eine beständige Einnahme des Verlages und den Rechteinhabern.
Ausführlich berichtet der Online-Artikel über Gleim, Betty (1781-1827) über ihr anstrengendes Leben und Ihre leider sehr wenig gewürdigten Bemühungen um die Bildung und die gesellschaftliche Bedeutung der Mädchen und Frauen. Siehe Website „bremer-frauenmuseum„.