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Ratten im Haus

by de olde Grotmüdders

       “anno dazumal” 

Wilma sendet uns einen neuen Beitrag:

H. Wagner schrieb in der Zeit von 1850 bis 1875 sehr ausführlich zum Thema Ratten, im Haushalt in Haus und Hof. Ich lebe auf dem Land und seit wir uns über den Klimawandel sorgen müssen, ist es sehr wohl an der Zeit dessen Konsequenzen zu sachlich benennen.
Eine ist, dass in Stadt und Land, in unseren Kanalisationen, auf unseren Grundstücken und in nicht wenigen Häusern das vierbeinige Ungeziefer zunimmt und zum Winter hin eine behagliche Umgebung bevorzugt. Und das nicht erst seit heute.
Das Problem gibt es bereits seit Jahrhunderten und es gab schon immer  Gründe, sich mit Ratten ausführlich zu befassen:

„Lange Zeit scheint die Hausmaus die Alleinherrschaft in den Kellern und Vorrathskammern des Hauses geführt zu haben. Von einer Ratte ist wenigstens in den Schriften der Alten nirgends die Rede. Zur Zeit Karl’s des Großen wird letztere große Verwandte der Maus zuerst namhaft gemacht. Woher die Hausratte oder sogenannte schwarze Ratte (Mus Rattus) nach Deutschland gekommen sein mag, ist unbekannt. Es möchte aber fast scheinen, daß das mittlere Asien in jenen Zeiten nicht nur Wanderschwärme von Menschen ausgesendet habe, sondern auch Züge von Ratten; die sich geräuschloser und langsamer, aber doch erfolgreich, über die meisten Länder der Erde verbreiteten. Um’s Jahr 1544 ward die schwarze Ratte durch Schiffe auch nach der neuen Welt als blinder Passagier mit übergesiedelt und kam zuerst in Südamerika ans Land. Sie hat sich seitdem dort so vermehrt, daß sie gegenwärtig daselbst häufiger ist als in Europa.

Ihre Schaaren hatten bis zur ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts die meisten Orte Europas in Besitz genommen und sich gleich fremden Kriegs – Völkern dem Menschen ins Quartier gelegt. Zu bequem, sich ihre Nahrung im Freien zu suchen oder gar sich Wintervorräthe anzulegen, plünderten sie in unverschämtester Weise die Speisekammer der Hausfrau und wußten die gewöhnlichen Fallen meistens geschickt zu vermeiden. Wurden sie ja im Zimmer so in die Enge getrieben, daß ihnen die Flucht unmöglich war, so setzten sie sich in entschlossener Weise wüthend zur Wehre, bissen Katzen oder Hunde, die sie fassen wollten, empfindlich in die Lippen und sprangen selbst dem Menschen nach dem Gesicht.

Niemand wußte, woher die widerwärtigen Gäste gekommen seien, und da ein Rattenpaar in einem einzigen Jahre 2—4mal Junge bekommen kann und zwar jedesmal 4—10, so können schon im zweiten Jahre 40 x 20 oder 800 Ratten von einem Paare abstammen, gerade genug, um die letzten Körnchen Getreide vom Boden wegzulesen. Kein Wunder war es, daß man die Rattenplage, gegen welche man sich auch durch kein Mittel zu helfen wußte, in frühern Zeiten als besondere Strafe Gottes ansah und deshalb in einzelnen Gegenden, z. B. in Nordhausen, einen besondern Bußtag ihretwegen ausschrieb. Es hatte derselbe aber keinen sonderlichen Erfolg, eben so wenig der Bannfluch, mit welchem der Bischof von Autun im Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts die ungebetenen Gäste belegte. Da ward ihrem Treiben ein Ziel gesetzt durch eine Verwandte, ein Glied des eigenen Geschlechts, die sie an den meisten Orten unserer Heimat vernichtete, ohne daß dadurch dem Menschen gerade ein Vortheil erwachsen wäre. Jener Vertreiber der Hausratte war die Wanderratte (Mus decumanus).

Sie ist größer und stärker als die Hausratte und weicht in ihrer Färbung auch von letzterer ab. Diese ist schwarz, die Wanderratte dagegen graubraun, auf der Unterseite des Körpers hellgrau. Jedes Haar ihres Pelzes an der Oberseite des Leibes ist am Grunde grau und nach der Spitze zu braun.

In Bezug auf ihr erstes Erscheinen in Europa erzählt man: im Jahre 1727 wären die südrussischen Steppen durch Erdbeben stark beunruhigt worden und in Folge dessen hätten sich die daselbst in Erdlöchern in Menge wohnenden Wanderratten auf die Wanderschaft gemacht. Sie seien zunächst in Astrachan eingerückt und von dort theils zu Lande, theils dadurch, daß sie sich in die Schiffe eingeschlichen, von Ort zu Ort über den größten Theil der Erde ausgebreitet worden.

In Persien hat man sie heutzutage noch wild auf den Feldern in Erdhöhlen angetroffen, überhaupt bevorzugt sie wie die Hausratte wärmere Länder vor kältern und kann in letztem nur durch ihren Aufenthalt im Innern der Gebäude sich vor dem Verderben durch den Frost schützen. Die Wanderung zu Lande ging natürlich nicht so rasch wie jene zu Schiffe. In Ostpreußen kannte man sie im Jahre 1750 noch nicht, in Dänemark ist sie erst seit etwa 60 Jahren eingewandert. Nach England dagegen kam sie schon um s Jahr 1730, nach Paris gegen 1753. In Braunschweig war sie bereits 1780 häufig, in der Schweiz dagegen bemerkte man sie vor 1809 noch nicht.
Wo die Wanderratte einzog, entspannen sich auch sofort wüthende Kämpfe zwischen ihr und der Hausratte. Es war weniger eine persönliche Feindschaft, welche beide Verwandte gegen einander erbitterte, wie etwa ein Krieg zwischen Hund und Katze, sondern es war der Kampf um’s Leben, hervorgerufen durch Nahrungsmangel. Da, wo Nebenfluß von Speise vorhanden ist, sollen beide Rattenarten friedlich neben einander schmausen; wo aber die Mahlzeiten anfangen knapp zu werden, entwickelt sich auch sofort in den großen Vettern der Maus eine Wildheit, die ihnen Aehnlichkeit mit Raubthieren verschafft. Sie fallen über einander her und der Schwächere wird todtgebissen, mitunter sogar aufgefressen. Jene Kämpfe unter den Dielen, jene Völkerschlachten in den Schlupfwinkeln, Rumpelkammern und Ställen der eignen Wohnungen werden meistentheils zur Nachtzeit geliefert und es mag manche Spukgeschichte, manche Erzählung von Winseln, Röcheln, Stöhnen, Poltern u. dergl., wie solche sich besonders an alte, winkelige Gebäude anknüpfen, ihren Grund in jenen Rattenkämpfen haben. Anfänglich nahmen die Wanderratten einzelne Ortschaften eines Landes in Besitz, in benachbarten Städten war noch die frühere schwarze Ratte unangefochtene Herrin. Später aber drangen die Ankömmlinge auch hierhin vor, eroberten gleich einem kriegführenden Heere erst einzelne Gehöfte, dann bestimmte Straßen und Stadtviertel , bis sie schließlich nach Jahren zu Alleinherrschern geworden und die Hausratten vertilgt waren. Gegenwärtig ist die Hausratte nur noch an einigen wenigen Punkten Europas zu finden. Sie soll in Königsberg noch häufig, in London dagegen nur noch in einzelnen Ställen zu finden sein. In Schottland behauptet sie noch einige Landstädtchen, in Kopenhagen einzelne Straßen. Bei Mailand ist sie noch häufig.

An Orten, wo sie durch Reichthum an Lebensmitteln und durch Schlupfwinkel besonders begünstigt wurden, haben sich die Wanderratten außerordentlich vermehrt, so z. B. leben ungeheure Schaaren in den Kloaken (unterirdischen Wasser- und Schmuzleitungen) von Paris und London. In letzterer Stadt ist es ein eigenthümliches Vergnügen mancher Leute geworden, im Zimmer Kämpfe zwischen Hunden und Ratten zu veranstalten und Wetten auf denjenigen Hund zu setzen, der die meisten tödtet. Die Wanderratte benimmt sich bei solchen Gelegenheiten noch viel wilder als die Hausratte, die sie auch in Bezug auf andere üble Eigenschaften übertrifft. Sie wühlt viel mehr Gänge und kann dadurch, wo sie in großen Gesellschaften beisammen lebt, möglicher Weise den Grund der Häuser so unterminiren, daß letztere sich senken und mit dem Einsturz bedroht werden. In der Wahl ihrer Nahrungsmittel ist sie nicht bedenklich und verspeist eben so gern Stoffe aus dem Pflanzenreich wie aus dem Thierreich, im Nothfall sucht sie sogar die Düngergruben auf.

Für kleinere Hausthiere wird sie zum gefährlichen Räuber. Sie überfällt junge Hühner, Tauben, Kaninchen u. dergl., beißt sie todt und schleppt sie in ihre Löcher, um sie ungestört zu verzehren. Junge Enten soll sie, da sie selbst geschickt schwimmt und gut taucht, an den Beinen unter das Wasser ziehen und ersäufen. Schlimm sind solche Hausthiere daran, die man des Mästens wegen in enge Behälter eingesperrt hat, und es sind Fälle vorgekommen , daß sie fette Schweine, Gänse und brütende Truthennen bei lebendigem Leibe angefressen haben Man erzählt sogar, daß schlafende Menschen von ihnen in die Zehen gebissen und daß sie Säuglingen gefährlich geworden sind. Werden mehrere Ratten in einem Kasten ohne Speise zusammengesperrt, so fressen sie einander auf, bis nur die stärkste von ihnen noch übrig bleibt. Die Fallen suchen sie mit besonderer List und Schlauheit zu vermeiden, und wenn ja eine Naschhafte sich bei einer Gelegenheit gefangen hat, so nehmen sich die übrigen sofort ein warnendes Beispiel daran und scheuen die Gefahr. Sie mit Arsenik zu tödten, der danach vielfach geradezu Rattengift genannt wird, ist immer bedenklich, denn sie erbrechen sich davon gewöhnlich und können durch Verschleppen des Giftes anderweitigen Schaden anrichten. Besser ist es noch, Brechnuß oder Phosphor zu benutzen. Um letzter» zu verwenden, nimmt man Stückchen holländischen oder Schweizerkäse von der Größe einer Bohne, höhlt dieselben etwas aus, verbirgt in das Innere derselben den Phosphor vom Köpfchen eines Streichzündhölzchens und schließt die Oeffnung wieder mit Käse zu. Da die Ratten den Käse leidenschaftlich gern fressen, werden sie die gifthaltigen Stückchen neben andern mit verzehren, die man ihnen vorwirft.

Man erzählt, daß man Ratten dadurch aus dem Hause vertreiben könne, daß man eine derselben lebendig fängt, ihr eine Schelle um den Hals bindet und sie dann wieder laufen läßt. Durch die ungewohnte Musik, die sie in alle Schlupfwinkel trägt, soll sie ihre sämmtlichen Genossen verscheuchen. Will man ihnen die Löcher vermauern, so muß man harte Steine dazu verwenden und dem Mörtel Glassplitter beimengen.

Als einer Kuriosität gedenken wir noch des sogenannten Rattenkönigs, der sowol bei der schwarzen wie bei der Wanderratte angetroffen worden ist und den man in Naturalienkabinetten und Raritätensammlungen ausgestopft aufbewahrt findet. Man trifft nämlich in manchen Fällen mehrere Ratten, 6—10 Stück, mit den Schwänzen so fest zusammengewachsen, daß sie sich nicht von einander trennen können. Wahrscheinlich war der Raum, den die alte Ratte für ihre Jungen ausersehen hatte, zu eng, so daß er den Heranwachsenden Kleinen nicht genug freie Bewegung gestattete. Dazu scheint sich aber noch eine Krankheit der einzelnen Haare gesellt zu haben, welche an den scheinbar kahlen Schwänzen stehen, eine Krankheit, welche mit dem berüchtigten Weichselzopf Aehnlichkeit haben mag und welche das gegenseitige Verwachsen und Verwickeln der Schwänze beförderte und vervollständigte. Sämmtliche Junge eines Wurfes waren hierdurch zeitlebens in ihr Nest gebannt und wurden bei hinreichenden Nahrungsvorräthen muthmaßlich von den Alten sowie von andern Ratten fortwährend gefüttert. Die ganze Erscheinung kommt übrigens sehr selten vor und machte vorzüglich in früheren Zeiten ganz außerordentliches Aufsehen. Da die Ratten selbst gleich Heerschaaren eines unheimlichen Dämons eingewandert erschienen und ihr Wesen trieben, da sie bei ihren Räubereien, Bauten, Kämpfen und Wanderungen gesellschaftlich zusammenhalten und wie auf Kommando zu handeln scheinen, so nahm man keinen Anstand, ihnen wie dem Bienenvolke auch einen Oberanführer, einen Rattenkönig, zuzuschreiben, der von dem Heimatlande Asien her noch die Landesgewohnheit beibehalten habe, sich einen Thron aus lebendigen Unterthanen herzustellen. Aus jenen verwachsenen Ratten, die man als Thron ansah, vermuthete man eine absonderlich große, grimmige Ratte als Sultan sitzend und regierend.

Wie von den Mäusen, so kommen auch von beiden Rattenarten sogenannte Albinos vor, d. h. Thiere mit schneeweißem Pelze und rothen Augen. Sie werden mitunter von Liebhabern in Käfigen gepflegt und gefüttert, auch wol zu mancherlei Kunststückchen abgerichtet. So widerwärtig die räuberischen, gefräßigen Thiere uns auch erscheinen, so erzählt man doch mehrfach Geschichten, daß unglückliche Gefangene, getrieben durch das Bedürfniß nach Gesellschaft irgend eines lebendigen Wesens, einzelne Ratten an sich gelockt und so gezähmt haben sollen, daß dieselben auf ein gegebenes Zeichen herbeigeeilt kamen und ihnen das Futter aus der Hand nahmen.

Man erzählt, daß die Neuholländer, die Bewohner mehrerer Südsee-Inseln, sowie die Zigeuner, die Wanderratte zum Wildpret rechnen, sie erlegen und verspeisen. Auch sollen Ratten neben den Katzen in China vielfach gemästet und verzehrt werden.
In Paris tödtet man jährlich Hunderttausende von Ratten, ohne eine ausfallende Verminderung herbeizuführen. Aus ihren Fellen verfertigt man sehr feine Handschuhe.

Eine dritte Art Ratte, die ebenfalls auf der Wanderschaft begriffen, ist die ägyptische Ratte (Mus Alexandrinus). Sie hat dieselbe Größe wie die Hausratte (Körper 6 Zoll, Schwanz fast 8 Zoll), sie ist aber auf der Oberseite des Körpers grau, auf der Unterseite sieht sie weiß aus. Ursprünglich war sie im nordöstlichen Afrika, in Aegypten und Arabien zu Hause, ist von hier aus aber — jedenfalls durch die Kaufmannsschiffe — nach Italien, Südfrankreich, dann auch nach der Schweiz und Süddeutschland gekommen und hat schließlich sich auch in die neue Welt, namentlich nach Nordamerika, mit hinübernehmen lassen. Wo sie mit der Wanderratte zusammentrifft, entstehen ebenfalls heftige Kämpfe, in denen die letztere wegen ihrer bedeutenderen Stärke Sieger bleibt.“

In diesen Worten und in diesem Stil schrieb man im 19. Jahrhundert.
Eure Eugenie


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