Der falsche Woldemar
4.
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Der Kapuziner.
Schmettere ihn zu Boden, allmächtiger Gott! Schlage ihn mit Blindheit und Raserei! Schleudere deine Blitze auf seinen Scheitel, daß die Erde unter seinen Füßen berste und der Abgrund ihn verschlinge! Verflucht sei er diesseits und jenseits, verflucht sein ganzes Geschlecht, verflucht Kind und Kindeskind in alle Ewigkeit! Amen.”
So sprach ein blasser Mönch von der Kanzel des Domes herab, die hageren Arme aus den zurückfallenden Ärmeln der Kutte ausstreckend, wie die Krallen eines ungeheuren Geiers, der in den Lüften nach unsichtbarer Beute schnappt. Die Donnerworte dröhnten durch die Gewölbe, die Scheiben zitterten, die Orgel tönte wieder, als wenn ein Geist der Rache mit unsichtbaren Fingern über die Tasten streife.
Es war nicht wie in einer christlichen Kirche, als in einem Heidentempel war’s, wo ein finsterer Beschwörer die bösen Geister ruft. Kein Sonnenschein fiel durch das bunte Glas, und trüb schauten gegen die dunklen Wolken die farbigen Gestalten der Märtyrer und Heiligen.
Die Versammelten saßen niedergebeugt Kopf an Kopf und atmeten nicht; es hauchte sie an wie Eisluft, die über Gräber streift.
Die zarten Weiblein durchzuckte es, wie wenn einer mit kaltem Stahl ihnen durch Herz und Brust fahre. Sie schlürften des Mönches Worte ein wie Gift, das die Nieren ausbrennt, und doch hielten sie nicht die Ohren zu; es war Gift, das mit Wollust kitzelt.
So hatte noch kein Prediger im Dom zu Brandenburg zu den Herzen gesprochen.
So eine jetzt den Kopf erhoben und hätte dem blassen Manne ins Gesicht geschallt, wäre sie niedergesunken vor Entsetzen. So sieht kein Lebendiger aus. So leichenblaß, das Gesicht so lang, der Mund halb geöffnet, und die schwarzen Augen wie brennende Kohlen, die in den großen Höhlungen unstät sich drehten. Der Bart umfloß nicht sanft und kraus den Mund, als es der Maler liebt; borstig zerrissen, gelb und rot starrte er um das Tolengesicht, auf dem kein Ausdruck war als der des Fluches. Die braune härene Kutte, vom Strick umschlungen, schlotterte um den Leib. Man meinte, wenn er heftig die Arme schüttelte, müsse sie ihm abfallen, und ein Gerippe werde dastehen.
Aber er schüttelte nicht die Arme. Er stand regungslos da, um Minuten, den Leib vorgebeugt, die nackten Arme dräuend in den Lüften, atemlos wie die Tausende unten. Man konnte ihr Herz klopfen hören durch die öde Kirche; seines nicht. Es war Stein. Endlich kehrte der Atem zurück, der Anhauch der Wange verriet, daß das Blut ihm wieder pulse; die Brust hob sich und er senkte die Arme.
Die Worte, die er gesprochen, waren die wahrhaftigen Bannworte, die der heilige Vater, Clemens der Sechste, wider Kaiser Ludewig den Bayern und sein Geschlecht aus Avignon geschleudert.
„Wann war es, ihr gläubigen Söhne und Töchter dieser Stadt, daß der heilige Vater diesen Bann sprach?” fuhr er fort. „Im Jahre des Heils 1345, am 13. April, es war der grüne Donnerstag. Zween Jahre sind’s.
Und wo ist der Kaiser, der in Stahl und Erz Rom trotzen wollte, der, die Krone der Majestät um sein Haupt, sich vermaß, Kaiser zu bleiben, der Kirche zum Hohn und Christi Stellvertreter zum Trotz? —
Fraget die Würmer, die seinen Leib fressen. Fraget die Geister der Hölle, die seine Seele trugen zu ihrem Fürsten. Steiget hinab in das Reich der Finsternis, und wenn ihr höret unter dem Heulen und Zähneklappern einen, der zehntausendmal ärger heult, es ist euer Kaiser. Noch ist kein Jahr um, sieben Monden nur, da ritt dieser Ketzer stolz und wohlgemut aus München, um zu jagen.
Nicht nach der Gottseligkeit, sondern nach dem Hirschen, der so brünstig in wilden Gedanken ist als er, nicht nach der Frömmigkeit und dem reinen Glauben, sondern nach den Vögeln in den Lüften, die sind so unbeständig und wetterwendisch, als er war. Nicht das Kreuz in der einen, den Rosenkranz in der anderen Hand; vielmehr auf der linken einen Falken, in der rechten einen Speer.
Die ihn schauten, stolz aus seinem stolzen Roß, vermeinten zu sehen die Herrlichkeit der Welt und jauchzten ihm zu: Heil ihm und langes Leben! —
Gott der Herr sah ihn auch und hatte ihm sein Ziel gemessen. Die Vögel in den Lüften fangen, und die Luft war rein und blau, und der Sonnenschein fiel goldig in den Oktoberwald. —
Das war eine lustige Jagd. Da mittags, als er das Hifthorn an die Lippen setzte, die Weidgenossen zu rufen: nun ist die Jagd aus, laßt uns freuen beim Mahle auf grünem Teppich! Da blies er hinein. Es kam kein Ton heraus. Herr Gott, was ist das! riefen die Junker und Ritter. Und wo noch eben die Sonne geschienen, ward’s dunkel; von den Alpen blies ein eiskalter Wind über den Forst graue und schwarze Wolken.
Es ward finster und schaurig. Die Vögel sangen nicht mehr. Die Krähen flogen aus den Wipfeln und krächzten ein Grabeslied. Was ist’s, schrien die frohen Jäger. Gottes Stimme wars. Sie rief: .Die Jagd ist aus. Ich lasse dem Jäger sein Wild? —
Und davon flog er mit seinen himmlischen Heerscharen. Der Geist der Finsternis mit den Seinen rauschte in den Wipfeln der Eichen. Da bäumte sich das Roß, darauf der Kaiser geritten. Es trug keinen Lebendigen mehr. Das unvernünftige Vieh sah, was des Menschen Augen nicht gewahrten: wie Satan dem Ketzer den Hals umdrehte.
So stürzte, der der Mächtigste war unter den Menschen, wie ein Steinblock, der an einer Klippe hing, und das Band, das ihn hielt, gibt nach, so stürzte er, ein kalter Klumpen, dumpf auf die Erde. Das Roß, Schaum um die Nüstern, stürzte mit heulendem Gewieher in die Weite. Keiner hat es eingeholt, keiner sah es wieder. Kaiser Ludewig, der Ketzer, verröchelte im Schoß eines Bauern, den sie zwangen, daß er ihn halte; denn die Furcht des Herrn war über die Jäger und Ritter gekommen. Es mochte ihn keiner anrühren, der vorhin vor ihm gekniet; und dem sein Atem, wenn er sprach, Balsam war, schauderte jetzt, als sei es eine Pestleiche.
Also straft Gott der Herr die Gottlosen und richtet, die Christi Vertreter in Bann getan, und in ihrem Hochmut vermeinen sie, sie hätten dessen nicht zu achten. Der Grund, auf dem er starb, heißt jetzt der Kaiseranger. Gehet nach München und schauet zu, ob er noch grün ist. Das Gras verdorrt, wenn es aufwächst. Unfern steht ein Kloster, das heißt Fürstenfeld. Also fällt der Fürst der Welt, der dem Fürsten der Ewigkeit nicht gehorcht. Das Gericht, ihr Bürger, geschah am elften Oktober in der Mittagsstunde im Jahre des Heils 1347.”
Abermals hielt der Mönch wie erschöpft inne. Aber seine Blicke starrten nicht mehr ins Leere, er schaute versenkt vor sich nieder, als sammle er aus den Grüften der Verdammten neue Flüche für die Lebendigen. Es war still wie vorhin; nur einzelne Weiber schluchzten.
„Deine Hand ist stark. Dein Atem ist ein Sturmwind, wenn du die Bösen vertilgest; dein Blick ist ein Feuerstrahl, der Städte verschlingt, wenn du zürnst. Wie lange willst du zaudern, bis dein Gericht vollendet ist!” So hub er von neuem an, langsam die Arme ausstreckend, bis sie wie Meilenzeiger gen Himmel standen, und die Finger der Hände schienen wie Flammen das Gewölbe der Kirche berühren zu wollen. —
„Gott Zions, ist denn deine Langmut unerschöpflich! Soll der Fluch nur halb erfüllet sein? Soll der Zweifel der sündigen Erdensöhne, der wie der Wurm nicht stirbt, neue Atzung finden dadurch, daß dein Gericht so lange währt! Beten denn die Heiligen an den Schemeln deines Thrones nicht täglich zu deinem Zorne, daß er sich in ganzer Fülle und Herrlichkeit entlade, als ein Gewitterstrum nach schwülen Wochen über die dürstende Erde?
Erbarme dich der Gläubigen und Guten, so wenig ihrer sind; du erbarmtest dich ja auch des Noah in den alten Tagen, und errettetest ihn durch die Schleusen des Himmels, die du über die Gottlosen auftatest, von ihrer ruchlosen Gemeinschaft.
Herr Zebaoth, wir rufen dich, wir flehen mit Zittern, höre uns, daß wir nicht verkommen unter den Rachen der Ketzer, daß unsere Reinheit nicht befleckt werde durch die Berührung der Ausgestoßenen. Wann? wann wird er wiederkehren der elfte Oktober?”
Seine Arme zitterten, er schaute nach links, nach rechts. Sein Gesicht war itzt so Bewegung, als es vorhin Stein war. Er lehnte sich weit über die Kanzel und breitete segnend die Arme aus.
„O betet! betet!” nicht mehr klang es wie Donner der Orgel; es war eine gedämpfte, tiefbewegte Stimme. Als senke sich das schwere Gewölbe auf ihn und die Versammelten, und gedrückt hauchte er es ihnen zu: „Betet mit mir, ihr Christen; denn es ist an der Zeit. Den Sünden ist ihr Maß gemessen. Ein Land, das in Gottlosigkeit verkehrt, und jeder Schritt ist ein Schritt in der Sünde, über ein solches Land kommt das Verderben, man sieht es nicht, und es ist da! Es war heute Tag und morgen ist Nacht. Soll ich euch malen, wie Ägypten heimgesucht ward, oder Ninive zitterte, weil das Volk nicht hörte auf die Stimme der Propheten? Nein. Denn was sind die Sünden Ninives, die Greuel Sodoms, die Eitelkeit und Torheit von Pharaonis Kindern gegen die Schuld, so auf dieser Mark Brandenburg lastet! —
War in jenen Ländern das Kreuz des Herrn erhöht, predigte ein Diener der heiligen katholischen Kirche, klang die Stimme des heiligen Vaters den Völkern zu den Ohren? —
O, ihr Andächtigen, wäre ihnen das Heil widerfahren, sie hätten sich gekreuzt und zu Boden geworfen, ihre Gewänder zerrissen, hätten die Haare gerauft und die Brust mit den Nägeln zerfleischt. Solches Heil widerfuhr nicht dem Lande der blinden Heiden. Aber dir, Brandenburg, widerfuhr es, und wie hörtest du auf die Stimme des Herrn? Wie begegnetest du feinen heiligen Priestern? —
Geschlachtet hast du einen heiligen Abt vor seinem Kirchturme, zerrissen den Gesalbten und einen Scheiterhaufen errichtet und verbrannt seinen Leichnam. Wehe dir, Berlin! die Steine schwitzen Blut, die Mauern beben vor Angst, die Kirchtürme wanken; die Wolken eilen, über solche Stadt fortzuziehen.
Und was taten Bürgerschaft und Ratmannen? Erbebten sie in ihrem Innersten? Fingen, griffen sie die Täter, brannten und räderten sie die Frevler, zogen sie aus in Sack und Asche, pilgerten sie nach allen Heiligenschreinen, lagen sie wochen-, monde-, jahrelang vor den Füßen Sankt Peters, daß er die Stadt in seiner Gnadenfülle loss
preche? — Nein. Sie schirmten und schützten die Frevler. Aber das Land, bebte das, wie vom Donner gerührt, wie in einem großen Hause, wo viele zusammen leben, und einen befällt die Pest?
Da scheuen sie vor ihm, besprengen sich und laufen fort, als weit sie können. Scheusten, liefen sie vor den Bürgern Berlins? Zogen sie eine Mauer um die verpestete Stadt? — Nein. Sie verkehrten mit ihr, handelten und tauschten, heirateten und trieben Kurzweil. Mehr als das — sie waren gleichgültig. —
Nun, du Gott Zebaoths, du warst langmütig, du ließest sie strafen durch Bann und Interdikt, daß sie zur Besinnung kämen. O, es ist schrecklich, wo die Glocken verstummen auf den Kirchen, als höre Gottes Stimme auf, zu dem Menschen zu reden. Kein Weihrauch duftet in den Kirchen, keine Messe wird gelesen, keine Klingel schallt. Kein Priester auf den Gassen mit dem Allerheligsten. O Christen, denkt euch das, faßt es in eurem Gemüte, keine Sakramente werden gereicht dem sündigen Büßer, der sich nach der Beichte sehnt; die Stühle sind geschlossen, kein Ohr neigt sich zu seinen Lippen.
Frohe Brautleute, sie bitten um den Segen der Kirche; des Priesters Mund ist versiegelt. Die unschuldigen Kindlein wachsen auf, eintreten möchten sie in den Bund der Christenheit; denkt euch den Schmerz der Eltern: kein Priester, der sie firmelt!
Und die armen Sterbenden, so die Hände ausstrecken nach der letzten Ölung. Ihr letzter Todesschrei, er verhallt umsonst. Der Franziskaner, der sich ihrer erbarmt, der zu ihnen schleicht auf nächtlichen Stegen, ohne Chorknaben, ohne Weihkessel, er trägt die Monstranz verhüllt unterm Mantel. Christen! denkt euch die Monstranz verhüllt, und der arme Mann muß Gott bitten, daß er keine Sünde begeht! —
Herr der Barmherzigkeit, das rührte doch ihre verstockten Herzen?”
Aus hohler Brust lachte der Mönch. Es klang fürchterlicher durch die Gewölbe wieder als vorhin seine Donnerstimme.
„Ei nicht doch. Sie sind guter Dinge und lustig als zuvor. Durch die zerstörten Kirchen heult der Wind, in den verbrannten Klöstern nistet die Dohle, über den zerstörten Kapellen wuchert die Nessel. Sie kümmert nicht das aufzubauen, was die Heiden zerstört. Scharen von Priestern ziehen barfuß, bettelnd, frierend durchs Land. Ihre Pfühle, drauf sie den Kopf legen, der Stein; ihre Decke, damit sie sich wärmen, Schnee und Wind.
Wer nimmt sie auf, da sie klopfen? Wer wärmt sie, wer speist sie, wer führt sie? Ist da kein Herr im Lande, der sich ihrer erbarmt? Keiner! Keine Stadt, wo die Frömmigkeit noch zu Haus ist?
Keine! Sie saufen und schmausen und füllen sich den Bauch und rufen: unser Markgraf ist ein Ketzer als wir, er ist gebannt und geflucht als wir! Kümmert euch nicht um den Tag, der morgen kommt. Laßt uns lustig bleiben, es ist Höllensabbath im Lande!
Nun, Herr! so öffne denn deine Schleusen, aber nicht Wasser gieße aus, das ist zu schwach, deine Feuerströme sende nieder, wegzubrennen die Schande und den Frevel. Nichts soll bleiben denn Kohle und Asche von der Rotte Korah, den Söhnen Amaleks; laß die Flamme auch fressen den Boden, drauf ihre Füße getreten; die Ernte ist reif. Es ist nichts zu verderben.”
„Und du bleibst still. Sendest keine Zeichen, daß du deinen Diener hörst!” so hub er abermals an, indem er wie in Verzückung des Schmerzes die Arme wieder aufhob und die Hände klammerte. „Erbarme dich der wenigen, der Lämmer unter den Wölfen. — Ja, du bist gnädig. Du willst nicht, daß alle verderben um den einen. — Aus ihnen selber soll der Rächer aufstehen! — Aber ich predige und schreie ja, und sie bleiben gleichgültig und legen die Hände in den Schoß. Dort, siehe die Ratmannen dieser Stadt, dort die Ritter, die Meister, die Bürger, wo hebt einer seinen Arm der Kirche und dir zum Dienste?
Meine Stimme wird heiser, ich kann nicht mehr. Sprich du zu ihnen, ihr Gewissen zu erwecken. Zeige ihnen den Engel, auf einem weißen, leuchtenden Rosse, der sie führe zur Schlacht wider die Ketzer; ein Engel muß es sein, Herr, denn einem Menschen trauen sie nicht. Unter allen Lebendigen in Brandenburg keiner, der es wagt, den Arm zu erheben wider deine Feinde!”
Schräg gegenüber der Kanzel saß auf dem Hochchor ein schönes Weib. Ihr Mieder von violettem Sammet, mit Goldketten und Spangen reich verziert, umschloß nur knapp den vollen Busen. Sie war kein Bürgerweib; auch für die von den niederen Geschlechtern war sie zu reich und üppig gekleidet. Du hättest sie leicht herauserkannt, denn alle Frauen saßen mit gesenkten Häuptern und zitterten oder hielten ihr Tüchlein vor den Augen. In ihren schwarzen, großen Augen sähest du keine Träne, vielmehr etwas von Ungeduld, auch Stolz; sie wußte beide nicht wohl zu bergen. Sie warf ihre Blicke umher, schien s doch, um zu schauen, was Wirkung die Rede hervorbringe. Auf sie selber hatte sie keine;
denn wenn sie ihr Tüchlein vornahm, war es nicht, um die Augen, sondern den Schweiß zu trocknen, der von Stirn und Nacken perlte.
Es war sehr heiß.
Diese stolze Frau, als setzt ihr Blick und der des Mönches sich begegneten, fiel nicht in Ohnmacht, auch erschrak sie nicht vor dem hohlen Auge und dem Geistergesicht: sie blinkte ihm vielmehr zu, unmerklich vor den anderen, er aber merkte es. Und zugleich wies sie mit dem kleinen Finger seitwärts auf die hohen Chorfenster. Was keiner in seiner Herzensangst gewahrte, sah sie, daß das Licht draußen fort war und dunkel schwarz sah es hinter den Scheiben. Die Schwüle kam nicht davon allein, daß die Kirche voller Menschen war, sondern ein Gewölle stand über der Stadt. Der Mönch blickte auch seitwärts, und als ob er sie verstünde, sah er auf das Weib und senkte dann die Augen.
Nun war es, als sinke er von Verzückung getroffen zu Boden. Er kniete nieder und lehnte das Gesicht auf das Pult. Eine schreckhafte Stille, die viele Minuten dauerte. Es ward dunkler und dunkler in dem Schiff: den unten Sitzenden dämmerten nur noch die Gewölbe über ihren Häuptern, die oben saßen, unterschieden nicht mehr die Köpfe derer zu ihren Füßen. Ein dumpfes Geräusch schwebte durch die schwere Luft und die hohen Fenster zitterten.
Da richtete sich das blasse Antlitz noch einmal auf. Noch einmal hob er die Arme und den Ton hatten sie noch nicht vernommen. Kein Donnerorgeln, kein heiser Ächzen: wie wenn der Sturm, in Gewölben gefangen, eine Pforte sprengt und nun voll, kräftig, ein Strom, der alles mit sich reißt, hervorbraust, so klang des Mönches Stimme.
„Halleluja! Gott Israels, du hörst dein Volk. Unter den Lebendigen ist keiner. Deine Posaunen rufen die Toten! O, lauter, Herr! Ein Zeichen ihnen, daß das Fell über ihren Ohren springt, die Haut über ihren Augen bricht!”
Ein dumpfer Donner rollte über den Häuptern und zugleich brachen die Wolken, ein Unwetter hub an. Platzregen und Hagelschauer schlugen und hämmerten aus das Dach der Kirche und peitschten gegen die Fenster.
Wer da in die Herzenskämmerlein hätte blicken mögen! Die da schluchzten, schrien jetzt auf: die da starr gesessen, wie von Stein und Erz, bebten. Es war auch entsetzlich, wie eine Nacht vor dem jüngsten Tage. Das Gewitter entlud sich, aber es wurden viele Gewitter, so dicht über der Stadt, daß die Wolken an den spitzen Dächern ihre Bäuche ritzten. Von der Stimme des Predigers hörte man nichts. Es war ein rollender Donner, ein Wasserschwall, der gegen die Scheiben klatschte und niederfloß.
Aber wenn ein Blitz die Nacht erhellte, dann sah man das bleiche Gespenst auf der Kanzel mit aufgerissenem Munde, mit leuchtenden Augen, mit den Händen arbeitend in der Luft.
„Sprenge die Todespforten! Öffne die Grüfte! Sende uns ihn, den Ersehnten, den Fürsten des Volkes! Ich sehe ihn, Herr, durch die Schauer deiner Macht, durch den Dunst der Gräber. Er regt sich, er stürzt aufs Volk, er ist’s, dein größter Fürst. Jetzt, jetzt — krache, Tor des Grabes, hebe dich, Leichenstein!
Das hörten noch alle. Der Mönch sprach es in einer Zwischenpause, wo ein Donner auslief. Aber jetzt zuckte ein Blitz oder waren es drei, fünf, zehn Blitze zugleich, denn durch alle Fenster flammte es im selben Augenblick und eine Helle, blendender als das Tageslicht, ergoß sich durch das Innere der Kirche.
In alle Winkel drang es, hinter die Pfeiler, in die Blenden, bis an die äußersten Spitzen der Kreuzgewölbe und zugleich auf die Fliesen des Bodens, daß die dort Stehenden unwillkürlich hinabschauten, als wolle das Feuer ihre Füße versengen und in die unterirdischen Grüfte dringen. Und mit dem Blitz zugleich entlud sich ein furchtbarer, lang anhaltender Donner, er rollte über den Köpfen, er rollte unter den Füßen. Die Fenster klirrten, die Pfeiler zitterten, die Gewölbe wankten, der Boden unter ihnen dröhnte.
Der Schlag, der niederfuhr, sausend, prasselnd, krachend, — jeder fühlte ihn, so nahe war es, — konnte hundert Türen aus ihren Angeln heben, hundert Grabgewölbe sprengen, hundert Leichensteine fortwälzen. Die Weiber schrien, die Männer hielten die Hand vor die Augen. Betäubt alle, und doch hörten alle die entsetzliche Stimme des Mönches: „Er ist da!”
Das hatte er mit emporgehobenen Händen, auf den Zehen stehend, gerufen; dann war er wie vom Schlage getroffen zusammengesunken. Wer hatte Augen, das zu sehen! Es war ein Aufruhr, als man ihn in einer Kirche selten erlebt. Feuer! schrien sie draußen und drinnen schrien die Weiber. Eine lag in Ohnmacht und die andere schrie um Hilfe. „Er kommt, er ist da!” und die eine dachte, der Erbfeind; die andere, ich weiß nicht was. Die Männer riefen da nach den: Sigristen, nach den Kirchenvätern und dort schrien sie: „Um Gottes Erbarmen! Ihr erdrückt uns.”
Es war nicht mehr blaues Schwefellicht, eine rote Flamme zuckte durch das Kirchenfenster. „ Es hat eingeschlagen, es brennt!” „Die Toten stehen auf!” wimmerten ein paar alte Mütterchen, auf den Knien liegend, und rangen die Hände. Es hätte sie niemand fortgebracht, auch wenn die Hellen Flammen in die Kirche schlugen. „Öffnet! öffnet!” riefen die Ältermänner.
Wer sollte öffnen, wo das Tor weit auf war; aber die Masse, die hinaus wollle, verstopfte den engen Eingang, und von draußen schlugen Ströme Regens herein. Da rannten aneinander und stießen sich, die vorwärts und zurück wollten, die den armen Weibern Hilfe brachten und die nur an sich dachten. Wie manche ward getreten, wie mancher kostbare Mantel von den Schultern gerissen, wie manche Pelzhaube kam unter die Füße.
Die Mütterlein beteten und schrien: „Das ist die Sünde der Welt!” die am Fenster riefen: „Des Böttchers Haus brennt! Rettet, rettet!” Es wußte keiner aus und ein, und die Glocken stürmten, ohne daß sie einer zog, und die Orgel tönte, ohne daß ein Finger drauf war.
Das schöne Weib im violetten Sammetmieder in der Emporkirche war aufgestanden und sah zu, als wie man einem Schauspiel zusieht, das uns gefällt. Alsdann, da sie Luft an dem einen Seitenpförtlein sah, stieg sie über zwei andere Frauen, die hinter ihr ohnmächtig lagen, hinweg, winkte den Edelknaben, die unfern vom Pfeiler standen, und schritt ruhig nach dem Ausgang.
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