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Hans S. mailte uns heute:
“Meine ersten 5 Lebensjahre verbrachte ich auf dem Lande, im winzigen Rund- oder Haufendorf Röhrse, rund herum um eine der Ortsgröße angepasste kleine Kapelle gebaut, die in den Jahren 1838 bis 1839 fertiggestellt wurde und bis heute unverändert – wie aus der Zeit gefallen – das Zentrum des überschaubaren Straßennetzes bildet. Seit 1974 gehört der Ort zur Stadt Peine in Niedersachsen.
Um das Dorf herum waren zu Anfang der 50iger des letzten Jahrhunderts nur Kartoffel-, Rüben-, Getreidefelder. Und Weideflächen, auf die morgens die Rinder getrieben wurden und die abends wieder zurück in den Stall geführt wurden. Die Milch stand am Morgen in metallenen Großkannen auf etwa 1 Meter hohen Holzgestellen und wurde von der Molkerei abgeholt.
Einmal in der Woche kam „Eis-Julius“ mit dem Moped und einem weißen 2-Rad-Anhänger mit 2 silbernen Spitzdeckeln aus Vöhrum herüber und wir Kinder konnten uns für 5 Pfennige je Kugel aus seinen 4 Eissorten für 10 Pfennige, die uns die Großeltern spendierten, unsere Wünsche erfüllen.
Das Getreide wuchs höher als wir gucken (preußisch ausgesprochen kucken) konnten. Aus heutiger Rückschau:
Eine traumhafte, sorglose und vollkommen unbeschwerte Kinderzeit.
Ich möchte sogar sagen, sie war wie im Märchen.
Die Felder erwähne ich, weil alles um das Dorf herum zu unserem Erkundungs-, Abenteuer- und Spielbereich gehörte.
Wir durften frei und ungebunden umherstreifen, aber niemals durften wir die Felder mit wachsendem oder reifendem Getreide betreten. Kornblumen oder Klatschmohn zu pflücken war uns nur am äußersten Feldrain erlaubt.
Wir Kinder hatten auch gar kein Verlangen den Getreidefelder zu nahe zu kommen. Eigentlich fürchteten wir uns sogar in der Nähe der Felder. Führte uns unser Weg zwischen zweien hindurch, schauten wir uns immer wieder ängstlich um.
Meine Großeltern hatten uns mit bildhaften Beschreibungen und ganz ernsthaft vor der Kornmuhme gewarnt, welche alle kleinen Kinder einfing, die sich unerlaubt in das Getreide wagten und sie auf Nimmerwiedersehen mit sich nahm.
Als unwiderlegbarer Beweis für ihre Anwesenheit galten die blauen Kornblumen. Diese zeigten an, welche Felder von den Kornweibern geschützt wurden.
Je mehr Kornblumen, umso größer das Warnpotential und desto höher die Abschreckung.
Die Mär von der wachsamen Kornmuhme (lt. Wikipedia ein Getreidegeist, ein bösartiger Dämon) ist ein sinnvoller Aberglaube, der von der Landbevölkerung und derer Obrigkeiten zum Schutz des lebenswichtigen Getreides so wirksam in die Welt gesetzt worden ist, dass er bis heute nicht ausgestorben – allerdings heutzutage ziemlich in Vergessenheit geraten ist.
Unsere Urgroßeltern und deren Vorfahren im 19. Jahrhundert wurden ebenfalls in ihrer Kindheit noch praktisch von diesen ungemütlichen Muhmen, den gefräßigen Wölfen im Getreidefeld und den kinderraubenden Kornweibern vor der Schädigung und leichtfertiger Beeinträchtigung der Getreideernte abgeschreckt.
Offenbar so wirksam, dass die vielen Begriffe für diese Getreidedämonen noch immer nicht „ausgestorben“ sind.”